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Donnerstag, 2. Februar 2017

Busfahrten

Ich fahre Bus. Jeden Tag.
Und mit mir viele andere Menschen. Jeden Tag.
Und dann sitze ich da, starre auf die Straße, die ich schon hunderte Male entlang gefahren bin, betrachte die Landschaft, die, sich nur mit den Jahreszeiten verändernd, immer gleich an mir vorbeizieht, höre das Brummen des Motors, der seit Jahren zuverlässig unter mir in seinem ganz eigenen Trott arbeitet.
Das einzige, was sich ändert, sind die Menschen.
Und dann sitze ich da und höre ihnen zu und beobachte sie, so unauffällig, wie es mir möglich ist.
Manche berichten über Familie und Freunde, manche planen ihr Wochenende und andere suchen Rat, wie sie Mama am besten von ihrer 5 erzählen können. Ich frage mich, ob ihnen bewusst ist, dass sie sich auf öffentlichem, freiem Raum befinden. Jeder, der möchte, kann sich geistig in ihre Gespräche einklinken und ein stiller Teil derer werden.
Und wenn ich lang genug da sitze, höre und beobachte, dann stelle ich mir vor, wie sie aus dem Bus aus- und in ihr Leben einsteigen. Ich stelle mir vor wie das kleine blonde Mädchen mit der blauen Brille, das unaufhörlich lacht, nach Hause geht und auf dem Weg ihr Lachen verblasst, denn die fünf in Deutsch wird schwerer und schwerer in ihrem Rucksack und sie kann den enttäuschten Blick ihrer Mutter schon in Gedanken kaum ertragen. Sie schließt die Haustür mit einem aufgesetzten Lächeln auf und hält gespannt die Luft an, bis ihre Mutter sie nach ihrem Schultag fragt. Ein schnelles "Gut" und die Sache hat sich erledigt. Sie geht nach oben, nimmt ihr Diktat heraus und fälscht die Unterschrift ihrer Mutter, wissend, dass am nächsten Elternsprechtag die Hölle los sein wird. Aber was soll sie tun? Ihre Mutter wird es ihrem Vater erzählen und wenn dieser betrunken am Abend nach Hause kommt, dann würde sie sich wünschen, gar nicht erst von der Schule zurückgekommen zu sein. Wie lange würde sie das noch durchhalten?
Oder der missmutig dreinblickende, großer, junge Mann in abgewetzter Kleidung, der immer wieder das Mädchen mit den schwarz gefärbten Haaren vor sich beobachtet, wenn sie abwesend aus dem Fenster starrt. An der nächsten Haltestelle steigen beide aus und gehen in verschiedene Richtungen davon. Während wir übrigen weiterfahren, stelle ich mir vor, wie er schlecht gelaunt einen Fuß vor den anderen setzt. Rechts. Links. Rechts. Links. Und dann wird er langsamer. Er denkt nach und bleibt stehen. Und dreht sich um. Er sieht kurz blau-schwarz glänzende Haare um die Ecke verschwinden, an der sich Pegasus- und Wilhelm-Busch-Straße treffen. Dann geht er wieder los, diesmal in genau entgegensetzte Richtung, als er es eigentlich tun sollte. Rechts. Links. Rechts. Links. Schneller, immer schneller wird er, bis er um die Ecke biegt und sie vor sich sieht, zum Greifen nah. "Hey", ruft er, sie dreht sich um. Er kramt in seiner Tasche und zieht einen Ring heraus. Auf einem Gesicht breitet sich ein ungläubiges Lächeln aus, von einem gepiercten Ohr zum anderen. "Kann es sein, dass der dir gehört?", fragt er und verschweigt, dass er den Ring nicht gefunden, sondern eines Tages aus ihrem Rucksack genommen hatte. Er brauchte das Geld, das er mit dem Verkauf hätte verdienen können, doch diesen Schritt hatte er schließlich doch nicht über sich gebracht. Und so brannte der Ring jedes Mal förmlich ein Loch in seine Tasche, wenn er sie ihm Bus gesehen hatte. Sie bedankt sich und fragt ihn, ob nicht auf einen Kaffee mitkommen möchte, während er innerlich schwer zu kämpfen hat. Ob sie ihm jemals vertrauen würde, wenn er ihr die Wahrheit verriete?
Ich bilde mir ein, diese Menschen zu kennen. Ihre Gedanken, ihre Ängste, ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. So viele Menschen, so viele Schicksale zusammengepfercht in einem kleinen Bus. So viel, was die Fantasie aus den Wegen machen, die sich hier plötzlich treffen und oft genauso plötzlich wieder auseinander gehen. Meist unberührt. Manchmal verbunden.
Aber immer irgendwo wahrgenommen. Wenn nicht von mir, dann sicherlich von jemand anderem.

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